Adrian Bachofen: Kann man die Zukunft wirklich seriös erforschen?
Tristan Horx: Aber ja! Wir unterscheiden allerdings zwischen Trend- und Zukunftsforschung. Gerade Trendforschung ist wissenschaftlich recht exakt. Wir beschreiben objektiv die Gegenwart und versuchen, die Leute so aus ihren Filterblasen herauszuholen. Wir probieren, aus Trends Prognosen zu formulieren.
Bachofen: Im bbv Technica Radar bewerten wir technologische Trends und Methoden im Hinblick auf ihre Zukunftsfähigkeit. So bieten wir unseren Kunden eine Entscheidungshilfe für anstehende Investitionen. Das lässt sich leichter prognostizieren als «die Zukunft». Was mich zur Frage führt: Was ist Zukunft nach eurer Definition?
Horx: Es gibt eine einfache Faustregel: Je kurzfristiger die Prognose, desto schwieriger ist diese zu treffen, da die Volatilität sehr viel höher ist. Bei Prognosen ab 10 bis 15 Jahren fühlen wir uns sehr wohl und der Rückblick zeigt, dass wir oft richtig liegen.
Bachofen: Wie könnt ihr disruptive Erfindungen in einer 15-Jahr-Prognose erkennen? Disruptiv heisst auch: unerwartet und unvorhersehbar.
Horx: Hinter sogenannt disruptiven Sprüngen – beispielsweise die Markteinführung des ersten iPhones – stecken oft grundsätzliche Technologien und Entwicklungen. In diesem Beispiel das Netz, das die Nutzung des Interfaces erst ermöglichte – in diesem Fall das Smartphone. Diese Technologien kommen nicht von heute auf morgen.

Bachofen: Lass uns das mal etwas konkretisieren. Ihr versucht, in eurem «Digitalen Hype Cycle» Entwicklungen vorauszusagen. Das ist aber meiner Meinung nach eine Korrekturschlaufe, in der wir uns heute an einem Tiefpunkt befinden. Ab jetzt soll es aufwärtsgehen. Die digitale Müdigkeit, die digitale Überforderung nehmen wir als digitaler Dienstleister und Entwickler ebenfalls wahr. Die zentrale Frage ist: Wie können wir unsere Produkte für die Menschen verträglicher machen?
Ein Beispiel: Wir entwickelten gemeinsam mit Professor Damian Läge eine Software für Ärzte zur Erfassung von psychischen Krankheiten. Bei dieser Arbeit spielte die Salienz eine zentrale Rolle. In einem Interview zum Thema Salienz mit Damian Läge gehen wir auf die Anforderungen und Probleme ein.
Kurz gesagt: Wir spüren die Abwärtsbewegung, die der Hype Cycle zeigt. Warum sollte es jetzt plötzlich wieder aufwärtsgehen?
Horx: Das ist die zyklische Natur von Trends. Unsere kognitive Wahrnehmung zwingt uns ganz oft, viel Geld, Zeit und Energie in Trends zu stecken. Es gibt aber Gegentrends, die darauf einwirken. Irgendwann eskaliert dieser Systemkonflikt und dann gibt es eine Synthese, also eine funktionale Mischform von Trend und Gegentrend, bevor dieser iterative Prozess von vorn beginnt.
Bachofen: Gemäss deiner Theorie schwingt das Federpendel jetzt nach dem Tiefpunkt wieder in die andere Richtung …
Horx: Das Pendel muss aktiv geschwungen werden, wie ihr das mit eurer Software getan habt! In den Unternehmen sind wir digital unterentwickelt, in der Gesellschaft dagegen übertreiben wir es mit der Digitalisierung.
Bachofen: Mein Problem bei dieser Form der Digitalisierung ist die Informationsüberflutung. Es hat so viele Inhalte, die mich nicht interessieren, die ich aber nicht loswerde.
Horx: Korrekt, wir ersaufen in Information, deren Qualität gleichzeitig immer schlechter wird. Wir erforschten über einen längeren Zeitraum, wie Leute ihre gesundheitlichen Symptome recherchieren. 2014 bekamen noch drei Viertel der Suchenden einen sinnvollen Treffer. 2019 waren es nur noch rund 15 Prozent – bei exponentiell mehr Informationen! Da müssen wir eine Lösung finden.
Bachofen: Ich finde dazu in eurem Digitalen Hype Cycle einige Begriffe in der Aufwärtsbewegung, die mich überzeugen. Achtsamkeit beispielsweise ist für mich sehr relevant.
Horx: Ein grosser Teil der Informationsmechanismen ist heute an puren Profit gekoppelt. Genau deshalb ist in der Aufwärtsschleife so viel drin, was Achtsamkeit, Real-Digital und Regulierung betrifft. Denn grundsätzlich sind diese Netzwerke eine fantastische Angelegenheit, aber man muss den Geist wieder in die Flasche zwingen.
Bachofen: Was meinst du mit Real-Digital?
Horx: Das kann ich am Beispiel der Dating-Apps gut umschreiben. Entgegen den Erwartungen interagieren die Menschen mit Tinder und Co. nicht mehr, sondern weniger. Jetzt wird versucht, mit der Synthese digitaler und persönlicher Kontakte Gegensteuer zu geben. Digitale Vorauswahl gefolgt von realen Treffen, ähnlich den Speed-Datings von früher. Ja, die Maschinen werden noch besser in Zukunft. Wir aber müssen humanere Menschen werden, das ist unser USP. Das in Einklang miteinander zu bringen, ist schwierig, weil das ambivalente Denken dazu so frustrierend ist. Es geht nicht um weniger Technologie, sondern um humanere Technologie.

Bachofen: Das dritte Element in der Korrekturschlaufe ist «Neue Userzentrierte Algorithmen». Welche Rolle spielt hier die KI?
Horx: Das ist genau dasselbe, nur auf Steroiden.
Bachofen: Genau deshalb bin ich so skeptisch eurer Korrekturschleife gegenüber, die doch recht schnell wieder hochgeht.
Horx: Wie ist dein Gefühl im KI-Markt?
Bachofen: Die Entwicklung läuft in Phasen. Teil eins sind Hilfestellungen, beispielsweise in der Texterstellung. Jetzt rollt die Frage auf uns zu, wie wir KI in die Produkte reinbringen. Wir bauten den bbv AI Hub, um KI-Lösungen zu integrieren. Hauptanwendungsgebiet ist das Wissensmanagement. Die Babyboomer mit ihrem grossen Wissens- bzw. Erfahrungsschatz verlassen die Firmen. Von der KI verspricht man sich eine gewisse Konservierung dieses Wissens. Selbstverständlich soll damit ein Mehrwert für die Nutzenden geschaffen werden.
Horx: Meine Erwartungen liegen weniger auf der generativen KI, sondern viel eher auf Machine Learning und Automatisierung von industriellen Prozessen. Da sehe ich einen starken Hebel. Mit Accenture stellten wir Prognosen auf, in welchen Bereichen welche Wirtschaftszweige bis 2035 wachsen würden. Im industriellen Sektor wurden 50 Prozent des Wachstums für Automatisierung mithilfe von KI prognostiziert.
Bachofen: Wir sehen ein ähnliches Potenzial, das wir mit unserem Swiss LCDM Hub adressieren. Damit können Daten firmen- und organisationsübergreifend synchronisiert werden. Das Anwendungsgebiet ist im Moment die Bauindustrie. Bauherr, Bauplaner, Handwerker haben alle den gleichen Informationsstand. Das schafft einen klaren Mehrwert.
Horx: Ihr liegt in vielen Dingen scheinbar richtig.
«Wissensvermittlung ist nicht mehr so wichtig, das Wissen ist dank der Vernetzung vorhanden. Was wir bräuchten, wäre eine Ausbildung, wie wir dieses Wissen korrekt nutzen können.»
Tristan Horx
Bachofen: Das mag sein. Aber da ist noch ein Elefant im Raum: die Generation Z. Unsere künftigen Mitarbeitenden und Kunden. Was will diese Generation?
Horx: Die Gen Z ist konservativ und auf der Suche nach Sicherheit. Sie ist zwar formell sehr gut ausgebildet, aber der Bildungsmarkt spuckt Leute aus für einen Arbeitsmarkt, den es heute so gar nicht mehr gibt.
Bachofen: Was heisst das konkret?
Horx: Wissensvermittlung ist nicht mehr so wichtig, das Wissen ist dank der Vernetzung vorhanden. Was wir bräuchten, wäre eine Ausbildung, wie wir dieses Wissen korrekt nutzen können. Aber die Netzlogik basiert noch immer auf exponentieller Quantität. Wir werden mit unserer Aufmerksamkeitsökonomie zwei bis drei Generationen traumatisiert bzw. verheizt haben.
Bachofen: Das führt mich zu meiner nächsten Frage: Wie komme ich als Unternehmer:in zu einem Plan, wie ich mich verhalten soll in dieser Gemengelage?
Horx: Wir verwenden noch immer die Denklogik aus dem industriellen Zeitalter, die auf Fliessbänder und abzusitzender Zeit basieren. Auch in Berufsfeldern, wo das gar nicht mehr sinnvoll ist.

Bachofen: Das ist bei uns schon lange nicht mehr so. Unser Brand «Making Visions Work» gilt übrigens nicht nur für die Firma und die Kunden. Sondern auch für die Mitarbeitenden: Was hast du für eine Vision und wie können wir diese gemeinsam erreichen? Daraus ergeben sich Entwicklungsmöglichkeiten, die das Unternehmen unterstützen kann.
Horx: Gerade wenn wir über persönliche Visionen sprechen, zeigt sich, dass der Ansatz, die Arbeitszeit als einzigen Massstab zu verwenden, verfehlt ist. Die Grundschwierigkeit für viele Firmen liegt im Transformationszeitpunkt. Wir sind in einer Übergangsepoche. Unsere These: Wir hatten lange die Traditionsunternehmen, dann kam die Moderne, die Industrialisierung. Im Moment sind wir in der Postmoderne, wir versuchen, die Kritik an dem, was wir geschafft haben, aufzulösen. Wir stehen an der Schwelle zur Metamoderne.
Bachofen: Die Übermoderne?
Horx: Genau. Das Traditionelle vermischt sich mit der Moderne. Traditionelle Verhaltensformen haben sich ja nicht deswegen durchgesetzt, weil bestimmte Leute sie gut gefunden haben, sondern weil sie evolutionär überlebensfähig waren.
Bachofen: Und die Lösung ist?
Horx: Das, was ihr bei bbv schon heute in grossen Zügen tut: kompetenzorientiert, teamorientiert zu arbeiten, aber nicht völlig ohne Hierarchie. Hierarchien ja, sie dürfen aber nicht zu steil sein. Und gerade euer Ansatz des Visionsmanaging … das klingt nicht nur sexy, das ist tatsächlich sehr attraktiv.
Bachofen: Werden wir nochmals grundsätzlich: Welche grundlegenden Fragen muss man als Unternehmer:in beantworten, um einen Masterplan für die Zukunft ausarbeiten zu können?
«Planung und Agilität sind eigentlich ein Widerspruch. Ich kann nicht jeden zweiten Tag die Unternehmensstrategie anpassen.»
Adrian Bachofen
Horx: Transformationszeiten erfordern Agilität. Ein Buzzword, das ich wirklich hasse, weil es für allen möglichen Mist eingesetzt wird. Aber hier passt es: Man muss schnell auf Marktentwicklungen reagieren können.
Bachofen: Planung und Agilität sind aber eigentlich ein Widerspruch. Ich kann nicht jeden zweiten Tag die Unternehmensstrategie anpassen.
Horx: Viele Unternehmen kränkeln, weil sie genau das versuchen. Sie passen die Pläne schnell an, um den Umsatz schnell zu retten oder zu steigern.
Bachofen: Und was empfiehlst du stattdessen?
Horx: Wir empfehlen in so einem Fall keine Prognose, sondern eine Regnose. Wir fragen zuerst: Wie sieht bei euch das Büro im Jahr 2040 aus? Dann arbeiten wir uns von der Zukunft rückwärts in Richtung Gegenwart. Das ist ein psychologisches Tool. Bei der Prognose arbeite ich mich in die Zukunft und finde immer 5000 Gründe, warum etwas nicht funktioniert. Wenn man das umdreht, fällt dieser Aspekt weg, man bekommt einen Möglichkeitsspielraum, in dem sich der Plan bewegt. Man fragt sich: Was ist passiert, dass mein Büro in 15 Jahren so aussieht?
Bachofen: Den Zeitraum finde ich sehr ambitiös. Schon 10 Jahre sind enorm. 15 Jahre sind sehr weit weg.
Horx: Für die Zukunftsforscher ist eine Prognose einfacher, je weiter weg der Zeitpunkt ist. Wir denken in immer grösseren Kategorien. 2040 werden wir keine volatilen Energiepreise mehr haben, weil wir mehr produzieren, als wir verbrauchen werden können. Bis 2040 fällt die Beschränkung durch Latenz in allen Netzwerken praktisch weg. Das wird die Grenze zwischen Hard- und Software noch mehr verwischen.
Bachofen: Klein und günstiger, klar. Aber habe ich dann auch mehr Gadgets?
Horx: Das ist dann die Marktfrage: Gibt es eine Zentralisierung auf ein Supergadget oder gibt es verschiedene Player? Keine Ahnung.
Bachofen: Das ist doch mal ein schöner abschliessender Satz eines Zukunftsforschers. (lacht)

Der Zukunftsforscher
Tristan Horx
Geboren knapp vor der Jahrtausendwende, ist Tristan Horx in der wohl bekanntesten Zukunftsforscher-Familie Europas aufgewachsen. Als Autor diverser Publikationen rückt er visionäre Szenarien seines Themenspektrums wie die Zukunft der Digitalisierung, Mobilität, Globalisierung und Nachhaltigkeit in den Fokus. Zudem ist er Dozent an der SRH Hochschule Heidelberg und an der Fachhochschule Wieselburg sowie Kolumnist bei der «Kronen Zeitung».

Der VRP der bbv Group AG
Adrian Bachofen
Adrian Bachofen ist Mitbegründer und Verwaltungsratspräsident der bbv Group AG. Als Unternehmer legt er grossen Wert auf Innovation und berät Verwaltungsräte, Entrepreneurs und Investoren in Visions-, Strategieund Digitalisierungsthemen. Sein Fokus liegt auf intelligenten Business Ecosystems und Plattform-Strategien. Er ist Vorstandsmitglied des Innovationsparks Zentralschweiz und des Technologie Forum Zug.