Adrian Bachofen: Die Architektur besticht häufig mit einfachen, klaren Projekten. Im Gegensatz dazu verstrickt sich die IT oft in komplizierten, überladenen Lösungen. Was kann unsere Branche von der Architektur lernen?
Markus Schaefer: Auch Architekten schlagen sich mit Komplexität herum. Im Idealfall aber, vor allem wenn Verantwortlichkeiten genau definiert worden sind, hat der Architekt die Aufgabe, ein Projekt und dessen Erstellung im Griff zu haben. Man muss das Objekt verstehen, muss fähig sein, es zu erklären und es schliesslich umzusetzen. Zudem wollen wir eine Geschichte erzählen, intuitiv nutzbare Räume schaffen: Das Projekt soll eine Idee und ein Raumgefüge verkörpern, die von den Betrachtenden und Nutzenden verstanden werden. Beide Ansprüche erfordern die grösstmögliche Einfachheit.
Du sprichst von Objekten. Funktioniert dieser Ansatz auch bei städtebaulichen Projekten? Oder um das wieder in die IT zu übertragen, bei übergeordneten Systemen?
Das ist in diesen Fällen noch zentraler. Es braucht die Einfachheit, damit sich viele unterschiedliche Anspruchsgruppen mit einer Idee anfreunden können, sie unterstützen und sich schliesslich in diesen Räumen zurechtfinden.
Aber eine Stadt ist von Natur aus sehr vielfältig und damit nicht einfach.
Ja, das ist aber eine andere Ebene. Die Heterogenität, Komplexität und Vielfalt wollen wir natürlich nicht vereinfachen, sondern vielmehr ermöglichen. Aber das muss eingebettet werden in das grundsätzlich einfache System.
Das Verständnis für die Ökonomie der Konstruktion und der dazu notwendigen Einfachheit ist zwingend. Gut gemachte Software und Interaktionsdesign, wie z.B. beim iPhone, folgen auch dieser Regel.
Markus Schaefer
Wir sind in der Digitalisierungsbranche mit langen Anforderungslisten konfrontiert. Wir sprechen nicht über eine Story bzw. eine Idee oder die Verständlichkeit des Projekts. Wir sind schon zufrieden, wenn wir hinter jede Anforderung ein Häkchen setzen können. Gibt’s das bei euch nicht auch?
Selbstverständlich! Aber die grosse Kunst in einem Projekt ist es, zu Beginn die Komplexität zu reduzieren, damit es verständlich wird. Wettbewerbsausschreibungen kommen nicht selten mit 50 Dokumenten, randvoll mit Anforderungen. Das sind viele Häkchen. Hinter diesem Berg an Anforderungen steckt jedoch der Wunsch, etwas Sinnstiftendes und Erkennbares zu bekommen. In der Architektur arbeiten wir letztlich immer mit Objekten und Räumen. Wir können mit unserem Embodied Mind – dem körperlichen Bewusstsein – das Verhältnis zu einem Objekt oder einem Raum wahrnehmen und buchstäblich körperlich spüren, was angenehm und intuitiv oder was schlecht ist. Der Mensch, sein Körper, sein Wahrnehmungsapparat und seine Bedürfnisse nach Sinn, Orientierung und sozialem Austausch stehen immer im Vordergrund.
Die Kunst der Reduktion fehlt in unserer Branche weitgehend. Was ist das konkrete Handwerk hinter dieser Kunst?
In unserer Branche ist der Begriff Typologie sehr wichtig. Das ist die Systematik, wie wir funktionelle Anforderungen organisieren. Die Architekturgeschichte kann als Katalog und Kanon von Typologien verstanden werden.
Hast du dazu ein Beispiel?
Eine Schule beispielsweise. Es gibt Schulen, die den Korridor in der Mitte haben von dem links und rechts Klassenzimmer abgehen. Andere haben den Korridor einseitig angeordnet und nutzen ihn für informelles Lernen. Das sind Muster, die sich bewährt haben. Wir haben diese «Pattern Language» im Kopf.
Wo bleibt dabei das Neue, Innovative und Überraschende? In der Digitalisierung ist das ein wichtiger Treiber.
Gerade die Patterns müssen sehr flexibel verstanden werden und nicht absolut. Sie dienen als Ausgangslage für Innovation. So kann eine Typologie mit einer neuen Idee besetzt werden. Ein wichtiger Treiber ist die Veränderung von Ansprüchen und Gewohnheiten der Benutzenden.
Die Architektur kann auf einen Jahrtausende alten Erfahrungsschatz zurückgreifen und gönnt sich den «Luxus», ein Erlebnis zu schaffen und eine Geschichte zu erzählen über die reine Funktionalität hinaus. Die Software-Industrie gibt es seit rund 60 Jahren. Wir sind schon zufrieden, wenn unsere Entwicklungen funktional sind.
Ihr kämpft noch mit dem Treppenhaus?
Ja, falls es überhaupt eines hat. Eingeschossig zu bauen ist für uns immer noch einfacher. Wir sind noch nicht an dem Punkt, eine Geschichte erzählen zu können.
Ein Anfang wäre, wenn jede Person im Team verstehen würde, wozu ein bestimmtes Modul dient und in welcher Abhängigkeit es zu den anderen Teilen steht. Das Verständnis für die Ökonomie der Konstruktion und der dazu notwendigen Einfachheit ist zwingend. Gut gemachte Software und Interaktionsdesign, wie zB beim iPhone, folgen auch dieser Regel.

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In der Business-Software behandeln wir alle Ansprüche gleich, darum sind viele Lösungen auch dermassen überladen. Wie löst ihr den Anspruch, dass ein tolles Projekt auch lebenswert sein muss?
Ein wichtiges Element ist die Standardisierung. Wenn wir ein Treppenhaus planen, ist die Höhe der Stufen normiert. Sehr viele grundlegend wichtige Dinge sind normiert und wir müssen uns damit nicht mehr beschäftigen. So können wir unsere Ressourcen in andere Dinge investieren.
Die Software-Industrie hat generell Mühe mit der Standardisierung. Wir versuchen uns zum Teil noch immer über die Stufenhöhe der Treppe von der Konkurrenz zu unterscheiden, was natürlich ein Blödsinn ist. Wie hat sich die hohe Standardisierung in der Architektur durchgesetzt?
Das sind heute Industrienormen, die von den Verbänden wie SIA festgelegt werden,
Die Standardisierung wurde von den Architekten selbst gewünscht?
Ja, gemeinsam mit den beteiligten Branchen. Die Industrie brauchte diese Normierung, damit sie ihr Ökosystem verbessern konnte. An einem Bau sind zahlreiche unterschiedliche Player beteiligt. Ein einfaches Beispiel: Die Schraube muss in das Schraubenloch passen und der Bohrer muss genau die richtige Dicke haben. Alles ist normiert. Das ermöglicht eine effiziente und letztlich auch kostengünstigere Produktion.
In der Architektur ist es ökonomisch erwünscht, sehr genaue Pläne zu machen. Nachträgliche Änderungen am Bau sind teuer. In der Software-Industrie braucht es für die Umsetzung oder nachträgliche Änderungen kein physisches Material, was vergleichsweise billig ist. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Planung und Umsetzung.
Adrian Bachofen
In der Architektur ist es ökonomisch erwünscht, sehr genaue Pläne zu machen. Nachträgliche Änderungen am Bau sind teuer. In der Software-Industrie braucht es für die Umsetzung oder nachträgliche Änderungen kein physisches Material, was vergleichsweise billig ist. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Planung und Umsetzung. Viele Kund:innen verstehen nicht, wenn die Planung unter Umständen ein Mehrfaches der Umsetzung kostet. Obwohl es eigentlich der Realität entspricht.
Durch das Fehlen der räumlichen Limitation, kombiniert mit der unter Umständen mangelnden Planung kommt man in einen Zustand, der einem permanenten Flickenteppich entspricht. Man hangelt sich von Fleck zu Fleck und hat die Gesamtstruktur nicht mehr im Kopf. Das kann Vorteile haben: Man ist schnell und agil und kann Fehler auch nachträglich korrigieren. Aber die ursprünglich angestrebte Einfachheit und das entsprechende Nutzererlebnis leidet darunter oder geht sogar verloren. Das wiederum empfinden die Menschen durch ihren «Embodied Mind» als mühsam und lästig.
Diese Reparaturen werden ausserdem oft von Spezialisten durchgeführt, denen der Blick für das Gesamtprojekt fehlt.
Diese zunehmende Spezialisierung ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist es nützlich, beispielsweise ausgewiesene UX-Experten zu haben, die sich vertieft mit diesem Aspekt des Projekts beschäftigen. Andererseits ist es wichtig, das System grundsätzlich zu verstehen und zu beherrschen. Menschen, die nur Einzelbereiche eines Systems bewirtschaften, tendieren immer zur Komplexität. Leute, die ein System beherrschen oder dies zumindest versuchen, tendieren zur Einfachheit.
Wenn sehr viele unterschiedliche Stakeholder bei einem Projekt mitreden – auch auf Kundenseite – dann nimmt die Komplexität automatisch zu?
Das Management der Einzelinteressen ist ein grosses Problem. Wenn hinter einem Bauprojekt eine starke Person steht mit einer klaren Vorstellung, ist die Einfachheit einfacher zu gewährleisten. Diese Konstellation kann aber zu anderen Problemen führen.
Nehmen wir ein extremes Beispiel. Ihr habt vor einiger Zeit einen Masterplan für die Umgebung des Bahnhofs Zürich vorgelegt. Wie erreicht man in dieser politischen und gesellschaftlich unübersichtlichen Gemengelage die nötige Einfachheit, um das Projekt noch beherrschen zu können? Ihr verwendet in euren Leitlinien den Begriff «Die Kultur des Dialogs». Was heisst das?
Ohne eine klare Idee gewinnt man einen Wettbewerb nicht. Das Vehikel für den Erfolg ist in so einem Umfeld nicht die starke Einzelperson – wie oben erwähnt – sondern eben die starke Idee.
Wie lange dauert es, bis so ein Projekt bei euch dann tatsächlich umgesetzt wird?
So um die 20 Jahre.
Unsere Projekte haben einen anderen Entstehungsrhythmus und eine andere Lebensdauer. Die Zeit, in der ein Projekt reifen könnte und verbessert würde, steht uns nicht zur Verfügung. Was fehlt, ist der Wille in der Branche, diese Zeit auch einzufordern. Die meisten Beteiligten möchten so schnell wie möglich mit der Umsetzung beginnen. Die Phase der Planung wird eher als Belastung empfunden und nicht als Bereicherung.
Als Software-Entwickler wäre es mein Ziel, die Prozesse des Kunden hinterfragen zu können. Die grösste Gefahr liegt doch darin, analoge heutige Prozesse einfach zu Digitalisieren und so den Ist-Zustand zu zementieren.

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Das ist eine Gefahr. Aber um die Prozesse sinnvoll zu erneuern sind diejenigen Leute gefordert, welche die Prozesse wirklich verstehen und nicht jene, die wissen, wie Software gebaut wird. Heute ist die Software-Industrie eher mit einem Baumeister vergleichbar als mit einem Architekten.
Gibt es denn Auftraggeber, die fünf IT-Firmen einladen mit der Vorgabe, sie sollen das Business und die Prozesse neu denken, so wie bei uns?
Das habe ich zwar noch nie gehört, es wäre aber sicherlich spannend. Ich bin überzeugt, dass sich die Branche in diese Richtung entwickeln muss. Der technologische Fortschritt macht zwar die Umsetzung günstiger, aber die Konzeption wird zunehmend wichtiger. Genau diesen Teil müssen wir im Hochpreisland Schweiz fördern. Das führt mich aber auch zur Frage: Wie schafft ihr es, euch planerisch in Zeiträumen von 25 oder gar 50 Jahren zu bewegen? Niemand weiss, wie die Welt dann aussehen wird.
Offene Typologien sind ein grosses Thema bei uns. Strukturen müssen mehrfach nutzbar sein. Unser Büro ist in einer alten Fabrik. Dies setzt eine gewisse Einfachheit voraus. Es gibt den Begriff «City as a Loft». Wir planen Systeme, die flexibel und mehrfach nutzbar sind. So tragen wir möglichen Entwicklungen in der Zukunft Rechnung. Wir erkennen aber auch Vektoren, die uns leiten: Die abnehmende Bedeutung des Autos in den Städten, die zunehmende Bedeutung von Grünräumen bei Verdichtung und Klimawandel, die demografische Entwicklung in der Bevölkerung, die zunehmende Digitalisierung beispielsweise.
Es gibt auch in unserer Branche Produkte, die multifunktionell einsetzbar sind. Eines ist ein absolutes Masterpiece.
Interessant, kenne ich das?
Lohnt es sich für alle Beteiligten, den Effort zu leisten, um das System immer auf dem neusten Stand zu halten und das Endprodukt möglichst effizient zu gestalten? Es gibt noch viele Player, die nach ihrem Aufwand bezahlt werden und nicht nach ihrem Beitrag zu einem möglichst effizienten Endprodukt. Das Baugewerbe ist aus diesem Grund auch eher kritisch gegenüber solchen Innovationen.
Markus Schaefer
Aber sicher. Excel (lacht). Das ist universell einsetzbar und hat eine gewaltige Verbreitung. Leider ist das eine Ausnahmeerscheinung. Wir denken Software häufig für einen Zweck und nicht universell. Aber das ist natürlich auch der Anspruch unserer Kunden. Gerade im Bereich digitales Bauen sehe ich einige Möglichkeiten für mehr Einfachheit.
Inwiefern?
Wir entwickelten mit dem Swiss LCDM Hub ein Tool, mit denen Daten zwischen den diversen Playern in der Bauwirtschaft, aber auch im Immobilienunterhalt einfach und unkompliziert ausgetauscht und abgeglichen werden können. Die Daten sind dank der Mitwirkung aller Player immer konsistent und können für unterschiedliche Bedürfnisse genutzt werden.
Solche Lösungen ermöglichen uns, eine möglichst grosse Effizienz zu erreichen. Einerseits intern in unserem Büro, andererseits aber auch in Zusammenarbeit mit all unseren Partnern und den beteiligten Firmen. Veränderungen am Plan müssen automatisiert in alle betroffenen Bereiche übertragen werden. Das Grundproblem in dieser Logik ist aber im Moment noch der Anreiz: Lohnt es sich für alle Beteiligten, den Effort zu leisten, um das System immer auf dem neusten Stand zu halten und das Endprodukt möglichst effizient zu gestalten? Es gibt noch viele Player, die nach ihrem Aufwand bezahlt werden und nicht nach ihrem Beitrag zu einem möglichst effizienten Endprodukt. Das Baugewerbe ist aus diesem Grund auch eher kritisch gegenüber solchen Innovationen.
Wenn die Strukturen und Anreize nicht stimmen, kann die Digitalisierung ihr Potenzial nicht entfalten. Wie könnte das verändert werden?
Es braucht einige grosse Player, die hier den Schritt konsequent tun und sich damit einen Wettbewerbsvorteil erringen.
Lass mich zum Schluss und als Essenz des Gesprächs nochmals fragen: Was können die Digitalisierungs-Unternehmen von den Architekten lernen?
Das gemeinsame Ziel muss Einfachheit von unten nach oben sein. Einfachheit der Interaktionen, in den Geschäftszweigen und auch kulturell. Dazu gehört ein Narrativ, also eine Idee oder eine Geschichte, ein Team und dessen Rituale und eine Zeitschiene. Für uns Architekten ist das aber einfacher als für Software-Entwickler, da wir ein konkretes Objekt vorzuweisen haben und an dem gemessen werden können.

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Der Experte
Markus Schaefer
Markus Schaefer ist Gründungspartner von Hosoya Schaefer Architects. Er hat einen Master in Architektur von der Harvard University Graduate School of Design sowie einen Master in Neurobiologie von der Universität Zürich. Fünf Jahre lang arbeitete er für OMA / Rem Koolhaas in Rotterdam und war Mitbegründer sowie Direktor von AMO (1999-2003).
Von 2005 bis 2007 war er Studio-Kritiker am Berlage Institute, anschließend Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien (2007-2012) und Hauptdozent an der Moscow Graduate School of Urbanism der National Research University Higher School of Economics in Zusammenarbeit mit dem Strelka Institute, wo er 2017-2018 Advanced Urban Design unterrichtete. Zudem leitete er 2018 ein fortgeschrittenes Urban-Design-Studio an der Harvard GSD.

Der Experte
Adrian Bachofen
Adrian Bachofen ist Unternehmer und Verwaltungsratspräsident der bbv-Gruppe. Er legt grossen Wert auf Innovation und berät bei Strategie- und Digitalisierungsthemen. Intelligente Business Ecosystems liegen ihm besonders am Herzen.