Die Auswirkungen der Digitalisierung werden inzwischen auch stark ausserhalb der Tech-Branche wahrgenommen, was unweigerlich Folgen auf die Strategieentwicklung von Unternehmen hat. Hat die klassische 5-Jahresstrategie nun ausgedient?
Labud: Sie ist sicher noch möglich. Unternehmen sind ja langfristig angelegt – was sich auch in der Strategie, die man erarbeitet, abzeichnen soll. Unternehmensziele wie personelles, finanzielles oder räumliches Wachstum erreicht man nicht von heute auf morgen. Aber: Eine langfristige Unternehmensstrategie im selben Detaillierungsgrad wie früher zu entwickeln, ist schwierig.
Ravicini: Das sehe ich auch so. Die Unternehmensstrategie alle fünf Jahre anzupassen, reicht heutzutage nicht mehr aus. Es braucht kontinuierliche, inkrementelle und iterative Prozesse mit kürzeren Iterationen.
Die Herausforderungen, denen sich Unternehmen in der heutigen Geschäftswelt stellen müssen, werden gerne mit volatil, unsicher, komplex, ambig umschrieben – auch VUKA genannt. Hat dies zugenommen?
Patrick Labud: Die Welt ist nicht komplexer geworden. Aber die Komplexität wird immer offensichtlicher. Chip-Mangel in der Autoindustrie oder die Folgen der tagelangen Suezkanal-Blockade sind Zeichen dafür, wie verwundbar Überoptimierung und Just-in-Time-Produktion sind. Solche Ereignisse treten heute sehr verdichtet auf und werden dadurch erkennbarer für die ganze Gesellschaft.
Marco Ravicini: Gerade im Tech-Umfeld wird diese erhöhte Geschwindigkeit besonders deutlich. Uber ist ein klassisches Beispiel dafür, wie schnell ganze Branchen verändern und sich neue Geschäftsmodelle etablieren.
Wie erreichen Unternehmen mehr Agilität in der Strategieentwicklung?
Ravicini: Der Graben, der teilweise immer noch zwischen IT und Business besteht, muss überwunden werden. Heutzutage sind IT-Systeme so eng mit dem Business verwoben, dass man sie kaum noch auseinandertrennen kann. Business-Entscheide haben oft direkten Einfluss auf die eingesetzte IT-Architektur. Deshalb braucht die Technologie-Seite einen ständigen Sitz am Strategietisch. Sonst verharren Unternehmen in einem langsamen, reaktiven Zustand, in dem getroffene Geschäftsentscheidungen direkt wieder verworfen oder überarbeitet werden müssen, weil sie an der technischen Machbarkeit scheitern.
Labud: Die Produkte werden heute immer digitaler – deshalb müssen sie unbedingt mit den internen IT-Prozessen abgeglichen werden. Produktentwickler können nicht nach Belieben agieren, sondern bewegen sich immer in den Rahmenbedingungen, die durch die interne IT gegeben sind. Wenn die IT-Architektur für jedes neue Produkt umgebaut werden muss, ist das teuer, ineffizient und langsam. Deshalb braucht es in der Produktentwicklung standardisierte Bausteine, die mit der bestehenden IT tatsächlich implementiert werden können.
bbv hat «Strategy Engineered» als neuen Tech-Trend identifiziert, der diese Punkte aufgreift. Für mich klingt das ein bisschen nach dem wohlbekannten Business-IT-Alignment. Was ist der Unterschied?
Labud: Das Alignment von Business- und IT-Strategie heisst noch lange nicht, dass IT und Business auch gemeinsam in einer Gesamtstrategie verankert sind. Daher geht «Strategy Engineered» noch einen Schritt weiter. Der kontinuierliche Austausch zwischen IT und Business – auch durch Events und Workshops – hilft nicht nur, die beiden Bereiche aufeinander abzustimmen, sondern auch gemeinsam neue Geschäftsideen zu entwickeln. Ich behaupte, dass niemand den Unternehmensprozess so gut verstanden hat, wie der Software-Ingenieur, der ihn implementiert hat. Dieses Know-how soll in Management-Entscheidungen zurückfliessen.
Ravicini: Die eigene IT-Abteilung wird immer noch gerne als reine Kostenstelle verstanden. Heutzutage ist das meistens nicht mehr der Fall. Sobald der Profit von der IT abhängt, darf man sie nicht mehr als Kostenpunkt betrachten – und schon gar nicht mehr als solche behandeln. Mit der IT verdient man Geld. Die IT ist essenziell für den Unternehmenserfolg und muss daher bei der Strategieentwicklung miteinbezogen werden.
Was ist nötig, damit dieser Austausch zwischen IT und Business auch wirklich glückt und Früchte trägt?
Ravicini: Das Business muss ein gewisses Tech-Verständnis vorweisen können, ebenso muss die IT in der Lage sein, ein grundlegendes Verständnis fürs Business aufbauen zu können. Business-Wissen hilft der IT, gewünschte Änderungen am System schnell umzusetzen. Und IT-Wissen hilft dem Business wiederum, strategische Ziele zu formulieren, die mit der eingesetzten IT auch in realistischer Zeit erreichbar sind. Dementsprechend sollte der Austausch zwischen beiden Parteien aktiv gefördert werden, etwa durch den Einbezug von Softwarearchitekten in strategische Entscheidungen.
Braucht es dazu neue Rollen im Unternehmen?
Labud: Das ist ein Thema, wo man über Rollen hinausdenken muss. Rollen helfen mir vielleicht, die Komplexität in der Unternehmensstruktur zu bändigen. Wer aber nur in Rollen denkt, lässt den Menschen, der hinter der Rolle steckt, ausser Acht. Mitsamt all seinen Fähigkeiten. Darum tue ich mich auf dieser Ebene schwer mit diesem Rollenbild. Am Ende des Tages braucht es Menschen und Fähigkeiten. Bei der Strategieentwicklung ganz besonders.
Ravicini: Die sogenannten «T-Shaped People», die sowohl Tiefenwissen in ihrem Fachgebiet wie auch Breitenwissen in anderen Bereichen aufweisen, gewinnen auch hier an Bedeutung. Das Business muss Breitenwissen in der IT aufbauen. Und die IT muss in der Lage sein, am Strategietisch bei Business-Entscheiden mitreden zu können. Dazu gehören Interesse an Themen wie Value Proposition sowie wirtschaftliches Denken. Ich denke nicht, dass man diese Fähigkeiten in eine Rolle zwängen kann, sondern diese Personen muss man im Unternehmen suchen und fördern.
Der Aufbau dieser Skills wie auch der Austausch unter den Abteilungen ist Aufgabe des Unternehmens. Partnerschaften spielen bei der Umsetzung der Unternehmensstrategie aber ebenfalls eine wichtige Rolle.
Labud: Die Wahl der richtigen Partner gehört definitiv zu den wesentlichen Faktoren für den Unternehmenserfolg. Unternehmen sollten sich auf ihre Kernkompetenzen besinnen und dort, wo diese fehlen, Partner hinzuziehen. Ein aktives, strategisch und operatives Partnermanagement mit fest definierten Regeln und Prozessen ist daher elementarer Bestandteil der Unternehmensstrategie.
Kommen IT- beziehungsweise Software-Unternehmen wie bbv hier eine Schlüsselfunktion zu?
Ravicini: Ja, wir können die technische Machbarkeit neuer, softwaregestützter Lösungen eruieren wie auch bei der Umsetzung unterstützen. So sind wir bis zu einem gewissen Grad auch an der Strategieerarbeitung von Unternehmen beteiligt.
Labud: Auch die Übersetzung einer Domäne oder eines Geschäftsmodells in die entsprechende IT-Architektur gibt Aufschluss über die Unternehmensstrategie. Ist die Architektur extrem divers und von etlichen Ausnahmen und Sonderregelungen geprägt, ist das ein Indikator einer nicht durchdachten Unternehmensstrategie. Wir können mit Machbarkeitsanalysen unseren Kunden helfen, solchen Wildwuchs in der IT zu verhindern – und können so bei der strategischen Planung unterstützen.
Der Experte
Patrick Labud
Patrick Labud ist als Senior Consultant für das Thema User Experience bei bbv tätig. Mit dem Ziel «glückliche User» unterstützt er Firmen dabei, UX in IT-Projekte zu integrieren. Für das Thema User Experience engagiert er sich zusätzlich in der Fachgruppe UX der Swiss ICT.
Der Experte
Marco Ravicini
Marco Ravicini ist als Senior Software-Architekt .NET bei der bbv tätig. Als Lead der Software Craftsmanship und .NET Community innerhalb der bbv ist ihm der Erfahrungs- und Wissensaustausch sehr wichtig. Marco ist passionierter Vertreter der Software Craft Bewegung.
Innovation Workshops
Die bbv Innovation Workshop Serie bietet Ihnen ein ideales Format, um Geschäftsideen zu verschiedenen technologischen und methodischen Trendthemen schneller zu finden und zu entwickeln. Jeder Workshop besteht aus drei Modulen, in denen wir Sie strukturiert von der Idee bis zum Business Case begleiten.
Mehr erfahren