Die Digitalisierung stellt die Finanzindustrie vor grosse Herausforderungen. Da im Bankwesen besonders strenge Bedingungen bezüglich Datenschutz, Regulatorien und Compliance herrschen, ist der Weg zum digitalisierten Unternehmen mit grösseren Hürden verstellt als in anderen Branchen. Insbesondere in der Nutzung von Cloud-Services bestehen Unterschiede. «Die Speicherung von Maschinendaten eines Industriebetriebs ist nicht vergleichbar mit der Speicherung von personenbezogenen Finanzdaten», sagt Roland Krummenacher, Cloud-Experte bei bbv. «Zudem bremsen neben den regulatorischen Vorgaben auch die schiere Grösse und die komplexen Strukturen der Banken-IT-Systeme die Migration in die Cloud.»
Die Vorteile des Cloud Computing für die Finanzindustrie
Nichtsdestotrotz sind die Bestrebungen von Banken, Zahlungsanbietern und Versicherungen gross, die Vorteile der Cloud für den Geschäftsbetrieb zu nutzen. Gemäss Emre Özyurt, IT-Projektmanager bei bbv, verschafft Cloud Computing im Banking enormes Potenzial für Optimierungen, neue Services und höheren Kundennutzen: «Digitale Produkte sind einfacher, skalierbar und schneller umsetzbar als herkömmliche Services. Zudem bietet die Cloud standardisierte Automatisierungstechniken an, was starke Kostensenkungen ermöglicht.» Weiter seien schnellere und umfassendere Datenanalysen möglich und die genutzten Anwendungen und Systeme seien stets auf dem aktuellsten Stand. Grundsätzlich stellt Cloud ein breites Spektrum an Services sowie ein Rahmenwerk zur Verfügung – so können sich die Unternehmen vermehrt auf ihre Fachlichkeiten und Kerngeschäfte fokussieren.
Konkurrenz durch digitalisierte Start-ups
Genau diese Vorteile nutzen auch junge, komplett digital ausgerichtete Fintech-Unternehmen, die vermehrt in den Finanzmarkt drängen und innovative Services und Produkte anbieten, auf welche die klassische Finanzindustrie reagieren muss. Die Cloud-Native-Vorgehensweise macht die neuen Player im Finanzgeschäft besonders agil und flexibel. «Mit einem Multi-Channel-Management können die Fintechs ihre Prozesse sehr schlank halten und diese exakt so planen, wie sie ihr Geschäft aufbauen», erklärt Emre Özyurt. Ihre Produkte lassen sich schnell und einfach skalieren und diese Unternehmen müssen weder ein aufwändiges Filialnetz betreiben noch Legacy-Systeme unterhalten. «Im Gegensatz dazu sind die traditionellen Finanzinstitute gezwungen, ihre bestehenden Prozesse den neuen Gegebenheiten anzupassen; sprich: zu digitalisieren. Sie betreiben grosse Rechenzentren und viel IT-Infrastruktur, in der ihre umfangreichen Kernbankensysteme laufen.» Zwar würden diese ständig modernisiert, doch sind Wartung und Betrieb unter Umständen sehr aufwändig.
Dies betrifft vor allem die Finanzinstitute. Die Voraussetzungen sind gemäss Krummenacher bei Banken und Versicherungen nicht dieselben. «Ich gehe davon aus, dass die Migration in Richtung Cloud in der Versicherungsbranche bereits weiter fortgeschritten ist als im Bankwesen», sagt er. Während einzelne Versicherungen bereits vermeldeten, dass sie ihre gesamten Kernapplikationen aus On-Premises-Systemen in die Cloud migriert haben, scheint dies bei Banken noch nicht so weit zu sein. «Die Banken lassen sich diesbezüglich nicht gerne in die Karten blicken.» Klar sei aber, dass die Tendenz auch bei den Banken deutlich Richtung Cloud gehe, zumindest bei den Umsystemen.
Kein Lift-and-Shift in die Cloud
Warum also nicht die On-Premises-Systeme eins-zu-eins in die Cloud migrieren? Schliesslich können die Cloud-Services, wie sie etwa von Microsoft, AWS oder Google angeboten werden, die Anforderungen der Finma erfüllen: Sie betreiben Rechenzentren in der Schweiz, garantieren eine Verschlüsselung der Daten und haben selbst keinen Zugriff auf Informationen. «Diesbezüglich sind die meisten technischen und regulatorischen Hürden zwar gelöst, sodass der Weg in die Cloud theoretisch frei steht», bestätigt Roland Krummenacher. Doch so einfach ist es nicht: «Ein Kernbanken-System ist häufig monolithisch gebaut und kann nicht einfach in die Public Cloud migriert werden». Und selbst wenn es möglich wäre, entständen mit dem Lift-and-Shift-Ansatz bezüglich Flexibilität und Kostenersparnis nur sehr kleine Vorteile, so Krummenacher weiter. «Es lohnt sich also nicht.»
Zwar werden auch in der Bankenwelt Umsysteme oder Services in die Cloud migriert, um punktuell deren Vorteile zu nutzen. Doch sei dieses Vorgehen zwar innovativ, aber nicht revolutionär, «denn die meisten Institute transformieren auf Basis des Bestehenden», konstatiert Roland Krummenacher. «Kurz- und Mittelfristig werden die Banken ihren grossen Legacy-Rucksack nicht loswerden.»
Banken fahren zweigleisig
Dennoch ist zumindest ein punktueller Greenfield-Ansatz auch im Finanzwesen möglich. Um wie die Fintechs Cloud-native-Produkte anbieten zu können, entwickeln Banken parallel zum Betrieb ihrer herkömmlichen Systeme kleine, digitale Insellösungen. Solche Produkte funktionieren unabhängig von den vorhandenen Angeboten und können unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt integriert werden.
«Viele Banken fahren – mitunter mittels der Gründung eines Spin-offs – eine Omni-Channel-Strategie, bei der etwa E-Banking angeboten wird, Chatbots bei der Beratung helfen oder den Kunden individualisierte und automatisierte Dienstleistungen zur Verfügung stehen», erklärt Emre Özyurt. Durch diese digitalen Produkte sind wiederum aussagekräftigere, kurzfristige Datenanalysen möglich, die für das Finanzinstitut, aber auch für deren Partnerunternehmen einen Mehrwert bilden können. Schliesslich wird der Aufbau von Ökosystemen in der Finanzbranche immer wichtiger.
Diese Sowohl-als-auch-Strategie muss verfolgt werden, um gleichzeitig herkömmliche und neue Märkte erschliessen zu können. Dies bedingt jedoch einen relativ grossen Aufwand. «Es ist teilweise notwendig, dass Banken ihre eigenen Geschäftsfelder kannibalisieren. Manche Services müssen doppelt geführt werden», erklärt Krummenacher.
Grosses Potenzial für die Zukunft
Neben den bereits genannten Benefits ist noch viel Potenzial für weitere Optimierungen vorhanden, wie Emre Özyurt erklärt: Bei der agilen Softwareentwicklung profitieren die Banken von der Cloud, da existierende Cloud-Module ein rapides Anwendungs-Prototyping ermöglichen, womit sich der Time-to-Market-Prozess wesentlich beschleunigen lässt.» Einen weiteren Vorteil sieht er in der Betrugsprävention: «Mittels Machine Learning können die Cloud-basierten Systeme besser trainiert werden, damit sie mittels Echtzeit-Analysen illegale Transaktionen viel schneller und mit weniger personellem Aufwand erkennen.
Im riesigen Angebot an Cloud-Services die richtigen zu finden, ist indes für transformierende Unternehmen, die ihr Kerngeschäft nicht in der IT haben, keine leichte Aufgabe. «Wir zählen je nach Public-Cloud-Plattform weit über 200 verschiedene Services mit unterschiedlichen Funktionalitäten und Preisen», sagt Emre Özyurt. Weil da kaum ein Unternehmen den Überblick behalten könne, sei die Expertise von bbv umso wichtiger. «In der Migration, aber auch im Aufbau von Ökosystemen, welche die Möglichkeiten der Finanzunternehmen deutlich vergrössern, ist die Evaluation der geeignetsten Innovationen, der besten Servicelandschaften und der optimalen Integration eine wichtige Voraussetzung, um die gesetzten Ziele mit der Migration in die Cloud zu erreichen.»
Die Experten
Roland Krummenacher
Roland Krummenacher war Cloud-Experte bei bbv. Während seiner Zeit bei bbv hat er über 40 Unternehmen zu Cloud-Themen beraten und in diversen Cloud-Projekten die technische Verantwortung getragen. Er war Microsoft Most Valuable Professional (MVP) für Azure und leitete die Cloud-Community von bbv.
Emre Özyurt
Dr. Emre Özyurt ist Consultant/Projektleiter bei bbv. Sein Focus liegt im Spannungsfeld von Cloud-Computing und Service Design für den Finanzmarkt. Er untersucht mittel- und langfristige Technologietrends und beschäftigt sich mit deren Adaptierung an Finanzunternehmen. Derzeit betreut er bbv-Kunden in Zürich/Bern/Luzern.