In den letzten 20 Jahren hat sich die Softwarelandschaft fundamental gewandelt. Geblieben ist aber die Frage, ob es eine individuell entwickelte Software sein soll oder eine Standardlösung schliesslich nicht besser auf die Geschäftsprozesse des Unternehmens passt. Auf diese und weitere Fragen geht einerseits unser Blog-Beitrag zu den Vor- und Nachteilen von Standard- und Individualsoftware ein.
In diesem Beitrag wollen wir uns nun einigen hartnäckigen Mythen zuwenden, die sich rund um Individualsoftware, aber auch um Standardsoftware ranken. Manche dieser Mythen haben etwas Wahres, andere sollten endlich mal relativiert werden.
Mythos 1: Standardsoftware basiert meist auf einer Breite von Unternehmens- oder Branchenstandards (oder definiert diese sogar). Davon profitieren Unternehmen am meisten.
Definierte Unternehmens- beziehungsweise Branchenstandards bieten eine gute Grundlage und schaffen Orientierung. Jedoch sind diese für die breite Masse gedacht. Dadurch müssen sie vieles abdecken und orientieren sich am Durchschnitt. Die entscheidende Frage ist nun, ob sich ein Unternehmen mit seinen Produkten am Durchschnitt orientiert oder ob es sich nicht eher im Markt differenzieren will. Das hängt unter anderem davon ab, welche strategische Relevanz der Anwendungsfall hat: Will man sich in einem Bereich strategisch differenzieren, können individuell entwickelte digitale Prozesse einen signifikanten Geschäftsvorteil bringen. Gleichzeitig können in anderen Unternehmensbereichen – in denen man sich nicht differenzieren will oder muss – sehr wohl Standardsoftwares eingesetzt werden. Dies ist typischerweise etwa beim ERP, bei der Buchhaltungssoftware oder bei der HR-Lösung der Fall.
Fazit: Dort, wo strategische Differenzierung gefragt ist, kann eine Individualsoftware die richtige Wahl sein. In manchen anderen Bereichen profitieren Unternehmen in der Regel von vorhandenen Lösungen.
Mythos 2: Standardsoftware reduziert die Abhängigkeit von Softwareengineers. Denn der Lieferant stellt sicher, dass seine Kunden nie von einem Fachkräftemangel betroffen sind.
Abhängigkeiten gibt es immer – egal, welche Variante man wählt. Bei einer Individualentwicklung ist man auf gute Softwareentwickler angewiesen und somit dem Fachkräftemangel ausgesetzt. Bei einer Standardsoftware ist man hingegen abhängig vom Lieferanten und beispielsweise seinem Zeitplan für Updates und Upgrades. Oftmals kann man Standardsoftware zudem nicht «out of the box» einsetzen. Das Customizing sowie der Betrieb und der Unterhalt der Software erfordern ebenfalls Spezialisten mit entsprechendem Know-how.
Fazit: Bei einer Individualentwicklung, die mit gängigen und weit verbreiteten Technologien arbeitet (z. B. .NET, Java etc.), kann es im Ergebnis einfacher sein, notwendige Fachkräfte und Dienstleister zu finden. Dies sollte jedoch nicht den Ausschlag für die gewählte Strategie geben.
Mythos 3: Standardsoftware zwingt Unternehmen dazu, die Prozesse effizienter und schlanker zu machen. Bei einer Individualentwicklung besteht das Risiko, dass eine eierlegende Wollmilchsau ohne eigentlichen Mehrwert entsteht.
Das Risiko hoher Kosten besteht insbesondere dann, wenn eine Software, die über längere Zeit keine Weiterentwicklung erfahren hat, modernisiert werden soll. Dementsprechend kann auch ein Customizing einer Standardsoftware ausufern und teuer werden. Deshalb ist eine eingehende Analyse oder die Beratung von Spezialisten oft die beste Vorbereitung für die Entscheidung, welche Strategie verfolgt werden soll. Grundsätzliche Fragen geben Aufschluss über das Vorgehen: Soll die Software an die internen Prozesse angepasst werden? Oder gibt die Software vor, wie die Geschäftsprozesse intern abgewickelt werden?
Fazit: Um grundsätzliche Strategien wie «Processes follows Software» oder «Software follows Processes» zu finden, braucht es passende Vorgehensweisen und Methodiken, die sich an der Wertoptimierung orientieren. Auch bei der Individualsoftwareentwicklung steht die Beratung im Mittelpunkt, sodass Anpassungen an den Geschäftsprozesse möglichst schnell antizipiert werden können.
Mythos 4: Standardsoftware ist über mehrere Jahre gerechnet die günstigere Lösung.
Dieses Argument wird oft als Hauptgrund für den Einsatz von Standardsoftware genannt. Vielleicht aber sind die initialen Kosten für Beschaffung und Lizenzierung einer Standardsoftware höher als bei einer Individualentwicklung. Demgegenüber verursachen Individualentwicklungen oft höhere Kosten für den Unterhalt (beispielsweise Anpassungen an neue Betriebssysteme) und für die Weiterentwicklung.
Was in dieser Betrachtung oft zu kurz kommt, sind einerseits die Opportunitätskosten sowie nicht erwartete Kosten für die notwendige Individualisierung der Standardsoftware. Durch den Einsatz von Software, die nicht optimal abgestimmt ist auf die Anforderungen und Prozesse im Unternehmen, entstehen oft schwer messbare Opportunitätskosten. Also höherer Aufwand bei den Mitarbeitenden – beispielsweise durch Schulungen, längere Durchlaufzeiten oder qualitative Mängel. Doch auch bei Individualsoftware entstehen Wartungskosten und Aufwände für die Weiterentwicklung. Deshalb führt nur die individuelle Kalkulation zur optimalen Vorgehensweise.
Fazit: Wie bei Punkt 3 ist das Abwägen, welche Strategie gefahren wird, wichtig für die Beurteilung der Kosten. Die Kosten variieren je nach Anwendungsfall.
Mythos 5: Finanziell attraktive Software-as-a-Service-Modelle (SaaS) gibt es nur für Standardsoftware.
Mit SaaS besteht die Möglichkeit, die Kostenstruktur interessanter zu gestalten (variable Lizenzkosten, Pay as you go etc.). Dieses Vorgehen ist jedoch nicht auf Standardlösungen beschränkt. Auch bei Individualentwicklungen besteht Potenzial für flexible Lösungen aus der Cloud. Zwar fallen bei einer Individualentwicklung in der Regel Investitionskosten an, jedoch kann heute insbesondere der Betrieb mittels Cloud-Lösungen ebenfalls sehr flexibel und nutzungsbasiert gestaltet werden.
Fazit: Mit der Entwicklung allein ist es nicht getan. Der Betrieb, die Anpassung und Weiterentwicklung erfordern ebenfalls die Begleitung von Spezialisten und die notwendige Flexibilität. Auch für Individualsoftware gibt es Möglichkeiten, von SaaS-Modellen zu profitieren.
Natürlich haben sowohl Individual- wie auch Standardsoftware ihre Daseinsberechtigung. Wichtig ist eine gründliche Abwägung vor dem eigentlichen Einsatz. bbv bietet für Unternehmen Beratung und Customizing für Software auf unterschiedlichen Individualitätslevels an. So findet sich für jeden Anwendungsfall die richtige Vorgehensweise.
Der Autor
Michael Maurer
Michael Maurer ist (Senior) Consultant und Solution Architect bei bbv im Bereich Finanzdienstleister & Transport. Seine Schwerpunkte liegen in der digitalen Transformation, im Innovationsmanagement sowie in der Konzeption von (Cloud-)Softwarelösungen. Durch seine langjährige Erfahrung im KMU-Umfeld versteht er deren Herausforderungen und kann zielgerichtete Lösungs- und Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigen. Er ist der Überzeugung, dass die Digitalisierung eine grosse Chance für alle Unternehmen bietet.